Konkret, 1/2012

Geglücktes Wagnis

40 Jahre Radikalenerlass

 

Ein Resümee von Georg Fülberth

 

Man hätte von Anfang an genauer hinhören sollen. »Wir wollen mehr Demokratie wagen«: So sprach Bundeskanzler Brandt in seiner ersten Regierungserk­lärung 1969. Was könnte er wohl gemeint haben? Die Demokratie stand schon seit 1949 Grundgesetz, aber es war nicht so viel daraus geworden, wie dem Wortlaut nach möglich gewesen wäre. Sie wurde unter anderem durch das politische Strafrecht eingeschränkt, Ar­beitsgerichte hatten den politischen Streik für illegal erklärt, die Kommunistische Partei war verboten. Wenn jetzt solche Hindernisse beisei­tegeräumt werden sollten: schön. Aber warum nannte Brandt dies ein Wagnis? Darum: Er sprach als Obrigkeit, die Demokratie dosiert verabreichen wollte - nicht die ganze sollte es sein, sondern eben nur »mehr«. Ihre Grenzen wurden gleich mitgeliefert.

Die damalige sozialliberale Koalition hatte drei Aufgaben: Erneuerung der Infrastruktur, Erschließung der östlichen Märkte für west­deutsche Exporte, Öffnung eines Schleichweges zur kapitalistischen Wiedervereinigung, nachdem Adenauers Versuch einer schnellen Recon­quista 1961 durch die Mauer gestoppt worden war. Eine vorläufige Anerkennung der DDR und Oder-Neiße-Linie war hierfür nützlich. Diese Ziele wurden auch von CDU und CSU hingenommen, wenngleich teilweise nur klammheimlich. Wegen der Grenzen allerdings hätte es Ärger mit den Vertriebenenverbänden gegeben, deshalb sollten in dieser Angelegenheit lieber die Sozis sich die Hände schmutzig machen.

Damit sie danach möglichst schnell wieder abgelöst werden konnten, mußte sofort Opposition gemacht werden. Als geeignetes The­ma hierfür erwies sich die Innere Sicherheit. Der Auftritt der RAF führte zur Forderung an Regierung, sie solle Härte zeigen. Brandt erklärte, man müsse ihn nicht zum Jagen tragen. Aber die Union verlangte mehr: Der Öf­fentliche Dienst werde von Verfassungsfeinden belagert, die müßten draußen bleiben.

Gemeint waren junge Leute, die von der Apo politisiert worden waren und nun Lehrerinnen und Lehrer werden wollten. (Das war damals der akademische Durchschnittsberuf wie vorher Jurist und heute BWL.) Nach konservativem Verständnis gehörten Akademiker zur Elite und 1968 waren Teile von ihr desertiert.

Diese Betrachtung war etwas oberflächlich, sie verkannte einen Tiefenprozeß: das Anwachsen der Intelligenz zur Massenschicht. Hier wurde die SPD aufmerksam: Nach Godes­berg hatte sie sich dieses Potential allmählich erschlossen, und sie wollte es nicht verlieren. Die 1968 gegründete DKP war einige Zeit attraktiv für ­die Unipopulation geworden. Wenn bei der SPD etwas funktioniert, dann ist es der Re­flex gegen linke Organisationskonkurrenz.

Aus dem Grab heraus meldete sich der Ge­nosse Gustav Noske und gab Folgendes zu be­denken: Die Führung der DKP war fest mit der DDR und der Sowjetunion verbunden. Wenn sie hierfür nun eine Massenbasis für die so wichtig gewordene Intelligenz gewann, dann war das nicht nur ein Problem für die Sozialdemokrati­sche Partei Deutschlands, sondern auch für den Staat, also Sache der für seinen Schutz verant­wortlichen Ämter.

Gesagt, getan. 1971 begann der sozialdemo­kratisch geführte Senat in Hamburg, kommu­nistischen Lehramtsbewerber(inne)n den Weg in die Schulen zu versperren. Im gleichen Jahr lehnte es der Wissenschaftssenator Moritz Tha­pe in Bremen ab, das DKP-Mitglied Horst Hol­zer an die Universität Bremen zu berufen. Er­nest Mandel durfte nicht Professor in Westber­lin werden (zuständig: Senator Stein, SPD). Der Innenminister Genscher (FDP) verbot ihm sogar die Einreise in die BRD. Auch in Bayern und etlichen CDU-Ländern ließ man Linke nicht in den Staatsdienst, aber dort gab es nicht so viele verdächtige Bewerber(innen), und außerdem war es dort halt das Übliche, während in den sozialdemokratisch regierten Regionen noch ein symbolpolitischer Knalleffekt hinzukam.

Bei derart einheitlicher Praxis wäre eine wei­tere Absprache gar nicht nötig gewesen. Damit es aber alle hören und sehen konnten, trafen sich am 28. Januar 1972 alle Ministerpräsiden­ten mit dem Bundeskanzler und stellten noch einmal fest: »Gehört ein Bewerber einer Organi­sation an, die verfassungsfeindliche Ziele ver­folgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zwei­fel daran, ob er jederzeit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen in der Regel eine Ab­lehnung des Anstellungsvertrages.« Das war der sogenannte Radikalen- oder Extremistenerlaß.

Die Praxis, die am 28. Januar 1972 nicht ins Leben gerufen, sondern nur bestätigt wurde, war älter als die sozialliberale Koalition. 1950 gab es schon den sogenannten »Adenauer-Er­laß«. Er zählte dreizehn Organisationen - elf linke und zwei faschistische - auf, deren Mitglieder aus dem Öffentlichen Dienst zu entlas­sen oder diesem von vornherein fernzuhalten waren. Die Bezeichnung stimmt nicht ganz. Es war nicht nur eine Tat Adenauers, sondern auch seines Innenministers Gustav Heinemann, da­mals noch CDU-Mitglied. Zu Kaiser Wilhelms Zeiten kannte man die »Lex Arons«, benannt nach einem Physiker und Erfinder einer Queck­silberdampflampe, der nicht Privatdozent blei­ben durfte, denn er war Mitglied der Sozialde­mokratischen Partei. Und 1933 verkündeten die Nazis das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums«.

Zurück in die Ära Brandt. Nunmehr wurde die »Regelanfrage« eingeführt. Wer in den Staatsdienst wollte, wurde vorher vom Verfas­sungsschutz gescreent. Insgesamt geschah das 1,4 Millionen Mal; 1250 Bewerber wurden abge­lehnt, 136 Personen entlassen. Schwerpunkt wa­ren die Schulen, aber es gab auch Berufsverbote bei Bahn und Post, bei letzterer sogar beson­ders heftige: Briefsortierer und -zusteller, die schon längst Beamte auf der untersten Stufe wa­ren, wurden wegen DKP-Mitgliedschaft entfernt.

Die beiden Annahmen, auf denen die Ra­dikalenverfolgung beruhte, erwiesen sich als falsch. Erstens: Wegen ihrer Fixierung auf die UdSSR und die DDR konnte die DKP die Intel­lektuellen auf Dauer nicht halten. Zweitens: Spätestens nach der Installierung neuer Mittel­streckenraketen in Europa 1983 war die Sowjet­union gar nicht mehr so bedrohlich, wie es lange ausgesehen hatte.

Seit Beginn der Lehrerarbeitslosigkeit in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erwies es sich auch gar nicht mehr als nötig, daß sich die Einstellungsbehörden mit politischen Ableh­nungsgründen blamierten: Wurde jemand nicht genommen, lag es eben einfach am Über­angebot von Bewerbungen. Um 1980 herum wurde zunächst in den sozialdemokratisch re­gierten, dann in allen anderen Ländern (zuletzt 1991 in Bayern) die Regelanfrage wieder abge­schafft, »Bedarfsanfragen« aber bleiben weiterhin möglich. In Niedersachsen gab es danach noch ein paar besonders harte Berufsverbote. 1995 befand der Europäische Menschenrechts­gerichtshof, daß die Lehrerin Dorothea Voigt, die in den vorangegangenen Instanzen vom Rechtsanwalt Gerhard Schröder vertreten wor­den war, in diesem Land wieder einzustellen sei. Als Annette Schavan in Baden-Württemberg ein Berufsverbot gegen den Antifaschisten Michael Csaszkóczy verhängen wollte, ent­schied 2007 ein Gericht in Karlsruhe für ihn.

Schon der späte Willy Brandt soll irgendwann gemurmelt haben, die Sache mit dem sogenannten Radikalenerlaß sei wohl ein Fehler gewesen. Er irrte. Die Maßnahme hatte durchaus eine beabsichtigte Wirkung. Nach 1972 rie­ten so manche besorgten Eltern ihren radikalen Kindern, sie sollten es doch lieber mit Umwelt­schutz versuchen. Vorsicht zog bei den jungen Leuten ein. Die SPD hatte allerdings nichts davon: Zwar war nicht die DKP die Generalver­tretung der Massenschicht der Intelligenz ge­worden, dafür wurden es die Grünen.

Mit ihrer Anpassungspädagogik gehört die Entschließung von 1972 ebenso wie die Vorgän­geredikte durchaus zu den konstituierenden Dokumenten der deutschen Staatsräson.