Junge Welt, 17.12.2011

»Das war die Kehrseite von Brandts neuer Ostpolitik«

»Radikalenerlaß« hat tiefe Spuren hinterlassen: Einschüchterung, Duckmäusertum, zerstörte Existenzen.

 

Ein Gespräch mit Michael Csaszkóczy

 

Vor fast 40 Jahren hat die Ministerpräsidentenkon­ferenz unter Vorsitz vom damaligen Bundeskanzler Willy Brandt den »Radikalenerlaß« be­schlossen, um angebliche Verfas­sungsfeinde aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Sie fordern gemeinsam mit ehemaligen Be­troffenen aus den 70er Jahren in einer Resolution, diese Geschich­te endlich aufzuarbeiten – wie sollte das geschehen?

 

Zunächst ist zu sagen, daß sich der Erlaß formell gegen »Links- und Rechtsextremisten« richten sollte — in der Praxis aber vor allem Linke traf: Mitglieder der Deutschen Kommu­nistischen Partei (DKP) und anderer sozialistischer oder linker Gruppieaurr­gen, von Friedensinitiativen bis hin zu SPD-nahen Studierendenorganisa­tionen.

Die müssen erstens rehabilitiert werden: Den meisten Betroffenen hat nie ein Gericht bestätigt, daß ihnen Unrecht zugefügt wurde.

Zweitens müssen sie finanziell ent­schädigt werden. Sie wurden oft jahr­zehntelang gehindert; den gewählten Beruf auszuüben und wurden in prekä­rer Lebenslage sitzen gelassen. Noch heute müssen sie auf Renten- oder Pensionsansprüche verzichten.

Drittens geht es um die politische Rehabilitierung: Endlich muß einge­standen werden, welcher Schaden dadurch für die Demokratie entstanden ist. Mit dem Kampfbegriff »Verfas­sungsfeindlichkeit« wurden systemkri­tische Organisationen und Personen an den Rand der Legalität gerückt. Man hat sie an der Ausübung von Grund-rechten wie der Meinungs- und Organisationsfreiheit gehindert. Wer als n Staatsfeind galt, wurde eingeschüchtert, bedroht und bestraft.

 

Welche Ausmaße hatte diese Verfolgung linker Oppositioneller?

 

Es galt, »Personen, die nicht die Gewähr bieten, jederzeit für die freiheit­lich-demokratische Grundordnung einzutreten«, aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten Mit Hilfe der

»Regelanfrage« wurden etwa 3,5 Millionen Bewerberinnen und Bewerber vom Verfassungsschutz auf politische Zuverlässigkeit durchleuchtet. Es kam zu schätzungsweise 11000 Berufsver­bots- und zu 2200 Disziplinarverfahren, zu 1250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Offizielle Statistiken existieren nicht. Tausende Menschen, die als Lehrerinnen und Lehrer, in der Sozialarbeit. in der Briefzustellung, als Lokführer oder in der Rechtspflege tätig waren — oder sich auf solche Berufe vorbereiteten und bewarben, erhielten Berufsverbot.

 

Was bedeutete das konkret für den einzelnen?

 

Wer dennoch seinen erlernten Beruf ausüben wollte, mußte einen jahrelangen Kampf aufnehmen. Betroffene wurden als Staatsfeind denunziert. Das wurde auch an die Presse lanciert und öffentlich verbreitet. Sie hatten quasi den gesamten Staatsapparat ge­gen sich, der versuchte ihre Existenz zu vernichten. Unter diesem Druck sind mitunter ganze Lebensentwürfe. Ehen und Beziehungen in die Brüche gegangen.

 

Welche Folgen hatte der Radikalenerlaß für die demokratische Entwicklung in Deutschland?

 

Diese Maßnahme diente der Unter­drückung außerparlamentarischer Be­wegungen. Statt Zivilcourage wurde Duckmäusertum gefördert. Es handel­te sich um die Kehrseite von Willy Brandts neuer Ostpolitik: Im eigenen Land sollte keine antikapitalistische Fundamentalopposition stattfinden.

 

Sie fordern, die Bespitzelung kri­tischer Oppositioneller zu been­den. in welcher Form existiert sie heute noch?

 

In meinem Fall hat der Verfassungs­schutz seit meinem 18. Lebensjahr mehr als 20 Jahre lang Erkenntnisse gesammelt, weil ich mich in antifa­schistischen Gruppen engagiert habe. Obgleich der Verwaltungsgerichtshof in letztinstanzlichem Urteil verdeut­licht hat, es sei nicht nachvollziehbar, wie es in einem Rechtsstaat zu solchen Eingriffen kommen kann, habe ich die Akten nicht einsehen können. Unter anderem wird heute noch fleißig deswegen weitergesammelt, weil ich mich gegen Berufsverbote einsetze.

Nicht zuletzt aufgrund der Ver­quickung des Verfassungsschutzes in rechtsradikale Morde ist endgültig klar: Diese Institution ist nicht refor­mierbar und muß aufgelöst werden. Mit der Extremismusklausel der Bun­desfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) gewinnt geheimdienstli­ches Bespitzeln der Linken neue Bri­sanz.

 

Interview: Gitta Düperthal ¨ www.gegen-berufsverbote.de